Vielfalt / Diversity

 

Auf den ersten Blick scheint fantastische Literatur nicht gerade vor Diversität zu sprühen. Märchen stehen im Ruf, Genderstereotype zu reproduzieren (verfolgte Unschuld, tapferer Ritter etc.), zudem wird körperliche Schönheit, Jugend und Gesundheit meist mit moralischer Tugend gleichgesetzt. Und Fantasy gilt – ebenso we Horror und Science Fiction – als eurozentrisch und männlich dominiert. Historisch gesehen ist das alles nicht mal so falsch (obwohl es Gegenbeispiele gibt – selbst im 19. Jahrhundert waren durchaus nicht alle weiblichen Märchenfiguren Prinzessinnen auf Erbsen).

 

Glücklicherweise gibt es inzwischen viele Autor:innen, die gegen diese Eintönigkeit anschreiben. Weil Repräsentation gerade (aber nicht nur) für Kinder und Jugendliche immens wichtig ist (übrigens auch dann, wenn sie selbst nicht zur jeweils repräsentierten Gruppe gehören), sammele ich hier fantastisch vielfältige Lese- und Hörtipps. Einige davon sind in den Märchen- und Buchtipps ausführlicher beschrieben.


Vielfalt im Pott - Hörtipp

Im großartigen Podcast Märchenpott spielen Diversitätsthemen wiederholt eine Rolle. Es werden Märchen vorgestellt und analysiert. Auf allen gängigen Podcast-Kanälen anhören.


Out of Europe - fantastische Schauplätze weltweit

Märchenhafte Geschichten müssen nicht in westlichen Settings spielen. Im Gegenteil - beim Blick über den europäischen Tellerrand entdeckt man viel Überraschendes - und viel Gemeinsames! Diese Lesetipps versammeln fantastische Texte mit internationalen Settings, sowie ethnisch und kulturell diversen Charakteren.

Märchen:

  • Tausendundeine Nacht

    Der Klassiker ist bei C.H. Beck in einer Übersetzung von Claudia Ott nach dem arabischen Originaltext erschienen.

  • Helga Gebert: Riesen und Drachen + Meermädchen und Wassermänner

    Zwar stammen die Märchen in diesen Bänden überwiegend aus Nordeurpa, es gibt aber auch Geschichten von anderen Kontinenten (siehe auch meine Buchtipps).

  • Kindermärchen, Pflanzenmärchen, Wintermärchen, Baummärchen aus aller Welt (Mutabor-Verlag)

    Die Sammlungen sind tatsächlich so global vielfältig, wie die Titel versprechen! (siehe auch meine Buchtipps).

Young Adult Fantasy:

  • Der Artikel "Diversity or Reality? Representation in YA Fantasy" (L. Elsdon 2020) beinhaltet eine Liste englischsprachiger Young Adult Fantasy mit dezidiert nicht eurozentrischen Schauplätzen, sowie anderer Aspekte von Diversität. Ich habe diese Titel noch nicht selbst gelesen, aber die Liste klingt vielversprechend. Online abrufbar.

  • Aiden Thomas: Sunbearer Duology

    Aiden Thomas, selbst latinx und trans, gehört zu den aktuellen US-amerikanischen Jugendbuchautor:innen, die sich unbeirrt für Repräsentation einsetzten – und demzufolge mit Bücherverboten zu kämpfen haben. Ein Grund mehr, diese Bücher zu empfehlen. Die – selbstverständlich genderdiverse – Urban-Fantasy-Welt der Sunbearer Duologie ist von mexikanischer Mythologie, Natur und Kultur geprägt. (siehe auch meine Buchtipps).

  • Naomie Novik: Scholomance Trilogy

    Eine Hauptfigur of Color und Mitschüler:innen von allen Kontinenten: Nie war ein Zauberinternat internationaler als die tödliche Scholomance. Wer hier mehrere Sprachen beherrscht und auf die magischen Traditionen unterschiedlicher Kulturen zurückgreifen kann, hat deutlich bessere Chancen, die Schulzeit zu überleben. Doch die geopolitischen Spannungen der magischen Außenwelt reichen bis in die Schule hinein, säen Misstrauen und bedrohen damit möglicherweise lebensnotwendige Allianzen.

Adult Fantasy:

  • Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte

    Vor dem Hintergrund islamischer Wissenschaft, Philosophie und Mythologie spinnt Salman Rushdie eine fantastische Geschichte über den Kampf zwischen Vernunft und Glauben, der einen Riss zwischen unserer Welt und dem Reich der Dschinns aufreißt - und damit das Leben der Menschen bedroht. Am Ende gelingt es zwar, diesen Riss zu heilen - aber zu einem fragwürdigen Preis ...


Der Prinz seines Herzens - Genderdiversität

Lesetipps zu sexueller Diversität, Genderdiversität und neu gedachten Genderrollen in fantastischen Texten. (Auch für Kinder und Jugendliche).

Märchen:

  • Oscar Wilde: The Happy Prince

    Schon für sich genommen ist dieses Märchen unendlich berührend. Wenn man es als Own-Voice-Text des für seine Homosexualität strafrechtlich verfolgten Oscar Wilde liest, geht es noch mehr unter die Haut (siehe Lieblingsmärchen)

  • Aregnasan (Märchen aus Armenien)

    Der Held dieses furiosen Zaubermärchens wird als Mädchen geboren. Doch erst als Mann findet er seine Bestimmung und sein Märchen-Happy-End. Nachzulesen in: Helga Gebert: Woher und Wohin? Märchen der Frauen.

  • Der Riese Morgazea (Märchen aus Rumänien)

    Der einsame Riese Morgazea wird auf fantastische Weise zum liebevollen Adoptivvater eines pfiffigen Waisenjungen  Und überkommene Männlichkeitsvorstellungen scheinen in dieser wundervollen Wahlfamilie keine Rolle zu spielen.

  • Linda de Haan und Stern Nijland: König und König

    Nach einer kindgerecht erzählten queeren Liebesgeschichte muss man leider lange suchen. Diese hier ist lustig und liebevoll. Sollte in jeder Kita stehen!

  • Boldizár M. Nagy: Märchenland für alle

    Gender und sexuelle Orientierung sind lediglich zwei Aspekte von Diversität, die in diesem einflussreichen Band Gehör finden (siehe auch meine Buchtipps).

  • Karrie Fransmann: Der Prinz auf der Erbse

    Klassische Märchen mit verkehrten Genderrollen erzählt.

Young Adult Fantasy:

 

Alle Bücher auf dieser Liste haben mindestens eine queere Hauptfigur und/oder queere Autor:innen

 

Die Liste enthält nur Titel, in denen ich die zentralen romantischen Beziehungen (egal ob heterosexuell oder queer) als ausbalanciert und gleichberechtigt empfinde, selbst wenn sie sich zwischen einer magischen und einer nicht-magischen Figur entwickeln. Einige der Romane enthalten mehr oder weniger explizite sexuelle Inhalte, daher sollten Altersempfehlungen der Verlage beachtet werden.

  • Rainbow Rowell: Simon Snow Trilogy

    Es gibt sehr viele Gründe, diese Reihe zu lieben. Einer davon ist die zentrale Romanze. Es macht mich nachhaltig fassungslos, dass Wayward Son (Buch 2) und Anyway the Wind Blows (Buch 3) in den USA von Bücherverboten betroffen sind, ausschließlich, weil sich diese – einvernehmliche, zärtliche, rücksichts- und verständnisvolle (und in diesem Sinne für junge Leser:innen absolut vorbildhafte) – Liebesgeschichte zwischen zwei Jungs abspielt. (Zumindest konnte ich keinen anderen Grund für die Zensur erkennen. Obwohl anscheinend auch Bücher mit Hauptfiguren of Color verboten werden. Von denen es in der Reihe ebenfalls zwei gibt. Armes Amerika). Jedenfalls ist die Reihe auch jenseits der M/M-Romanze unsagbar magisch, warmherzig, witzig und spannend, mit toll geschriebenen Dialogen. Uneingeschränkt empfehlenswert. (Siehe auch meine Buchtipps)

  • Sarah Rees Brennan: In Other Lands

    Diese humorvolle, kurzweilige und warmherzige Coming-of-Age-Fantasy-Geschichte hat nicht nur mehrere queere Haupt- und Nebenfiguren zu bieten, sondern behandelt auch eine ganze Reihe feministischer Themen, von der kulturellen Bedingtheit von Genderstereotypen über die Sexualisierung und Objektivierung weiblicher Körper bis hin zu Fragen gesellschaftlicher Gleichstellung. Hauptsächlich geschieht das durch die satirische Gegenüberstellung der (innerweltlichen) patriarchalischen Menschenkultur und einer amazonenhaften elbischen Kultur mit verkehrten Geschlechterrollen. Das ist oft überaus komisch - obwohl einem angesichts der Relevanz der Themen auch immer mal wieder das Lachen im Halse stecken bleibt. Wirklich herzerwärmend ist, dass auch die  (bisexuelle) männliche Hauptfigur (zunehmend) feministische Positionen vertritt. Davon bitte mehr!

  • Margaret Rogerson: Sorcery of Thorns

    Klassische Fantasy-Heldenreise mit ansprechenden World-Building-Details für Buchliebhaber (lebendige Bücher!) und einer starken (auch physisch starken) weiblichen Heldin. Die Autorin selbst identifiziert sich als asexuell und aromantisch und obwohl queere Thematiken nicht offensichtlich im Vordergrund stehen, ist eine Figur bisexuell,  zwei weitere erkennbar asexuell. Folgerichtig wird romantischen und nicht-romantischen Beziehungen zwischen den Charakteren eine gleichwertige narrative Bedeutung und emotionale Tiefe zugesprochen

  • Aiden Thomas: Cemetery Boys

    Wie die Sunbearer Duologie ist auch Cemetery Boys ein Own-Voice Text mit einem Transjungen als Hauptfigur. Anders als Teo in der Sunbearer Duologie, dessen Transgenderidentität und Homosexualität von Freunden und Feinden fraglos akzeptiert werden, muss Yadriel allerdings selbst in der eigenen - magischen aber konservativen - Familie um Anerkennung kämpfen. Zu diesem Zweck beschwört er einen verirrten Geist, eine Fähigkeit, die seit jeher nur den Männern seiner Familie vorbehalten ist. Dummerweise geht die Sache schief und statt seinen kürzlich verstorbenen Cousin wiederzufinden, muss sich Yadriel fortan mit dem hyperaktiven, störrischen und unpraktischer Weise äußerst attraktiven Geist seines Mitschülers Julian herumschlagen. Und der weigert sich schlicht, ins Totenreich überzuwechseln …

  • F. T. Lukens - So this is Ever After (u.a.)

    F. T. Lukens – selbst nicht-binär – schreibt unterhaltsame, leicht lesbare Fantasy-Romanzen für Teenager, deren Charaktere diverse Geschlechter und sexuelle Orientierungen repräsentieren. So this is Ever After ist eine überdrehte romantische Komödie, in der der junge Ich-Erzähler Arek binnen drei Monaten eine:n Seelenverwandte:n heiraten muss, um einem tödlichen Fluch zu entgehen. Doch was nützt es Arek, in einem queeren Utopie-Land unter lauter unglaublich attraktiven Leuten zu leben, wenn der eine Junge, den er wirklich will, ihn (scheinbar) nur als besten Freund betrachtet?

  • Maggie Stiefvater: The Raven Cycle + The Dreamers Trilogy

    Atmosphärisch dichte, packende und z.T. recht düstere (aber nicht humorlose) Fantasyreihen. Die – glaubwürdige und berührende – M/M-Romanze beginnt in der zweiten Hälfte der Raven Cycle Reihe und wird in der Spin Off-Reihe Dreamers Trilogy weiter vertieft, ist aber nicht der zentrale Handlungsstrang. (Die Dreamers Trilogy ist noch um Einiges düsterer als der Raven Cycle – meinem Empfinden nach eher Adult als Young Adult).

  • Esther Kienzler: Das farblose Land

    Ja, das ist eins von meinen Büchern ;-). Nach einer queeren Nebenhandlung in Good Queen Bess und das Möwenmädchen und einigen Andeutungen queerer Thematiken im zweiten Band von Time4Stories gibt es in Das farblose Land nun auch queere Hauptfiguren. Ich hoffe, dass ihr sie so sehr mögt wie ich.

Adult Fantasy:

 Die Kriterien für diese Liste entsprechen denen der Young Adult Fantasy Liste oben.

  • Leigh Bardugo: King of Scars Duology

    Leigh Bardugo erzählt in ihren spannenden Grisha-Verse-Romanen queere und heterosexuelle Liebesgeschichten völlig gleichwertig. In der King of Scars-Duologie werden einige Handlungsstränge aus den (besseren) Crows-Bänden wieder aufgegriffen. Zudem spielt die Transgenderthematik eine Rolle.

     

  • Freya Marske: A Marvellous Light

    Eine mörderische Ilex-Hecke, edwardianische Herrenhäuser voller nicht gänzlich ungefährlicher Blumentapeten, eine magische Bootspartie die (no pun intended) aus dem Ruder läuft und zwei junge Gentlemen, die ihre Ängste, Traumata und Sehnsüchte unter distanzierter Coolness, respektive untadeligen Manieren verbergen  dieser historische Fantasyroman ist very British indeed! Und trotz einiger ernsterer Unterthemen (u.a. Mobbing und Sexismus), ist die Mischung aus Fantasy, Krimi und (definitiv nicht jugendfreier) M/M-Romanze äußerst unterhaltsam. Der Folgeband A Restless Truth  folgt der jüngeren Schwester einer der Hauptfiguren auf ihrem eigenen magischen Abenteuer und erzählt eine F/F-Romanze.

     


Jung, schön und gesund? - Physische, psychische, neurologische und altersbezogene Diversität

 

Jung, schön und gesund: Das sind – immer noch – Attribute stereotypischer Märchenheldinnen und -helden und auch die Attribute inhärent „guter“ Wesen in vielen fantastischen Welten (man denke Elben vs. Orks). Dennoch lassen sich selbst in Märchen – und erst recht in zeitgenössischer Fantasy – Gegenbeispiele finden, wenn auch manchmal erst auf den zweiten Blick. Verwandlungsprozesse oder magische Abnormitäten (z.B. Flüche) können oft als metaphorische Darstellung von (psychischen) Krankheits- und Heilungsprozessen gelesen werden und der (innerweltliche oder literarische) Umgang mit als psychisch oder körperlich „Anders“ gekennzeichneten Figuren ist durchaus divers.

 

Märchen:

  • Das Mädchen ohne Hände (Brüder Grimm)

    Vordergründig eine Erzählung über eine – grausam herbeigeführte – körperliche Einschränkung kann dieses Märchen auch als Geschichte der Überwindung eines Traumas gelesen werden.

  • Der junge Riese (Brüder Grimm)

    Eine Darstellung massiver und fortschreitender gesellschaftlicher Ausgrenzung auf Grund der Abweichung von körperlichen Normen. Auch wenn der Held seine Feinde vordergründig besiegt – ich kann das Ende der Geschichte nicht als volksmärchentypisches Happy End lesen.

  • Die Gänsehirtin am Brunnen (Brüder Grimm)

    Eine alte Frau, die mitten im Wald lebt und ein junges schönes Mädchen vor der Welt verborgen hält – das muss doch eine böse Hexe sein! Oder nicht? Ein wunderbares Beispiel für die Thematisierung von Vorurteilen im Märchen.

Young Adult und Adult Fantasy:

  • Rainbow Rowell: Simon Snow Trilogy

    Mir ist bewusst, dass ich diese Reihe bereits im Zusammenhang mit der Repräsentation sexueller Diversität erwähnt habe, aber sie ist eben auch in der Kategorie „Helden mit gesundheitlichen Einschränkungen“ einfach herausragend. Spätestens seit dem wunderbar melancholischen Ende des Herrn der Ringe gehört es zum erzählerischen Goldstandard, die psychischen Narben, die Heldenreisen unweigerlich hinterlassen, nicht zu verschweigen. Aber selten wurde die posttraumatische Belastungsstörung eines „Auserwählten“ derart eindringlich dargestellt wie hier. Simon Snows Zustand zu Beginn von Wayward Son depressiv, mutlos und vollkommen überzeugt von der eigenen Wertlosigkeit – bricht einem das Herz. Rowell verweigert einfache Lösungen (die Bösen sind besiegt, der Held hat seine große Liebe gefunden ...) und erzählt Simons langen, von Rückschlägen geprägten Heilungsweg stattdessen schonungslos realistisch, aber zugleich unsagbar einfühlsam und auch immer wieder hoffnungsvoll. Neben diesem Handlungsstrang gibt es einige weitere Anti-Ableismus-Elemente in der Reihe. Z.B. spielt in Any Way the Wind Blows der Umgang mit magischen Lernbehinderungen eine zentrale Rolle. (Siehe auch meine Buchtipps).

  • Olivia Atwater: Half a Soul

    Die Regency Fairy – Serie kombiniert historisches Flair, wunderliche Elfen-Magie, milde Sozialsatire und hübsche Romanzen. Bei aller Cozyness bietet die Serie aber ein erfreuliches Spektrum an Diversität, z.B. die sozial niedrig stehende Hauptfigur in Tenthousand Stitches und eine F/F-Romanze in Long Shadow. Und eben die magische Neurodiversität der Hauptfigur in Half a Soul: Dora wurde als Kind von einem bösartigen Elfen der Hälfte ihrer Seele beraubt und seitdem unterscheiden sich ihre Emotionen deutlich von denen anderer Menschen. Was sie ins gesellschaftliche Abseits stellt, aber ihrem Happily Ever After ultimativ nicht im Weg steht.

  • Leigh Bardugo: Six of Crows Duology

    Immer noch eher selten: Eine Hauptfigur mit einer realistischen (nicht magisch bedingten) körperlichen Einschränkung. Kaz Brekker, der Kopf der Crows, geht humpelnd am Stock. Die Autorin, die selbst an Osteonekrose erkrankt ist, hat in Interviews bestätigt, dass die Konzeption und Darstellung von Kaz’ Einschränkung an ihre eigenen Erfahrungen anknüpft. (Siehe auch meine Buchtipps).