Zugegeben: Die Nummer 1 der Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm ist alles andere als ein Geheimtipp. Vielleicht ist "Der Froschkönig" sogar das am häufigsten zitierte Märchen überhaupt – und dabei mit Sicherheit eins der am häufigsten verfälschten! Denn das Klischee des verzauberten Froschprinzen, den man mit einem Kuss erlösen muss, hat mit dem Märchen herzlich wenig zu tun. Nichts gegen Küsse im Allgemeinen oder auch im Speziellen als Mittel der Erlösung – aber im Kontext der „Froschkönig“-Handlung ergibt es eben viel mehr Sinn, dass der wahnsinnig aufdringliche Tierbräutigam von der „bitterbösen“ Prinzessin an die Wand geschleudert wird. Diese wunderbar emanzipierte Prinzessin, die den Prinzen erst ins Bett lässt, als er vom „garstigen“ Frosch zum „freundlichen“ jungen Mann gereift ist, ist jedenfalls ein tolles Role-Model. Besonders deutlich wird das in Fredrik Vahles Lied-Version, die sich praktischer Weise mit nur vier Akkorden auf Gitarre oder Ukulele begleiten lässt (den Instrumental-Teil am Ende lassen Lagerfeuer-Musikanten wie ich dann lieber weg).
Und dann ist da noch der immerhin titelgebende Eiserne Heinrich, mit seinem kurzen, aber furiosen Auftritt am Ende des Märchens. Irgendwie hat mich diese Figur schon immer fasziniert und neben drei Froschkönigkostümen in verschiedenen Größen liegt in meiner Karnevalskiste auch ein von eisernen Ketten umschlungenes Herz. Dabei hat mich Heinrichs devote Haltung immer ein wenig gestört – einer der Gründe, warum ich ihm in „Die unglaublichen Abenteuer des Herrn Heinrich zu Wiesengrund, genannt der Eiserne“ (Time4Stories 1) eine deutlich selbstbewusstere Rolle auf den Leib geschrieben habe.
Eigentlich mag ich es nicht sonderlich, wenn Märchen eine zu deutliche Moral postulieren. Eigentlich. Denn die Botschaft, die in „Hans im Glück“ mit wunderbar leichter Hand vermittelt wird, hat mit ihrem herrlich naiven Antikapitalismus einfach Charme: Das Glück, so führt uns Hans vor Augen, liegt nicht in materiellem Reichtum, im Gegenteil, dieser kann sogar eine Last sein. Ob das nun bei Niederschrift des Märchens tatsächlich so gemeint war oder ob das eine postmoderne Interpretations-Projektion ist – auf jeden Fall macht dieses Märchen verlässlich gute Laune!
Eins der geliebtesten Märchenbücher meiner Kindheit waren die von Helga Gebert zusammengestellten und übersetzten Zwergenmärchen, die von ihrem Ursprung her eigentlich meist „fairy tales“, also Feen- oder Elfenmärchen sind. Und in diesem Buch wiederum war die Geschichte von Käthe Krach-die-Nuss (Kate Crackernuts) eine meiner liebsten.
Käthe ist eine wunderbar unkonventionelle Märchenheldin. So ist sie zwar unansehnlicher als ihre Stiefschwester, aber dieser dennoch liebevoll verbunden, und als die hübsche Anne verzaubert wird ist es Käthe, die mit Mut und Tatkraft für ihre Erlösung sorgt und – ganz nebenbei – auch noch zwei Prinzen für sich und die Schwester an Land zieht.
Erst vor Kurzem bin ich auf eine Variante des Märchens im Film Die verzauberte Anicka (Tschechien 1993) gestoßen. Anicka hat darin eine etwas aktivere Rolle als Anne im schottischen Original, ansonsten sind sich die Geschichten sehr ähnlich. Die innige Beziehung der Stiefschwestern und Kates unerschrockenes, selbstbewusstes Wesen wird auch in der Filmversion deutlich.
Helga Geberts Märchenbücher sind leider nur noch antiquarisch erhältlich, die Geschichte von Kate Crackernuts kann man aber auch in dem wunderbaren Buch Kindermärchen aus aller Welt nachlesen.
Ich liebe die Situationskomik in diesem Märchen! Wie nach und nach immer mehr Leute – inklusive dem Pfarrer, der eigentlich zur Kindstaufe müsste – an der goldenen Gans des Dummlings kleben bleiben ist ebenso absurd wie lustig. Kein Wunder, dass die ernste Königstochter daraufhin endlich lacht! Und dann noch diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, mit der der König dem Dummling trotzdem die versprochene Hand der Prinzessin vorenthalten will! Gott-sei-Dank geht das Ganze gut aus und der Dummling und die nunmehr fröhliche Prinzessin bekommen ihr Märchen-Happy-End.
Noch eine Kindheits-Erinnerung aus einem Helga Gebert-Märchenbuch, jedoch aus dem Band Riesen und Drachen. In dieser Fassung ist die Geschichte um den irischen Sagenhelden Fin M'Coul (Fion mac Cumhail) ein kurzweiliges und spannendes Märchen, das Schwank- und Zauberelemente verbindet. Wie Fins fabelhafte Frau Oona den eigentlich unbesiegbaren Cucullin hereinlegt, sodass ihm selbst sein Kraftfinger und der plattgedrückte Blitz in seiner Hosentasche nichts mehr nützen, das ist ein äußerst unterhaltsames, von Ironie und Witz sprühendes Lehrstück in Märchen-Schelmen-Schläue.
Auch dieses Märchen findet sich dankenswerter Weise – in ähnlichem Wortlaut – in den Kindermärchen aus aller Welt wieder.
Es gibt viele wunderschöne Liebesgeschichten in Märchen. Am liebsten sind mir die Zaubermärchen der Kategorie „Verzauberter Mann / verzauberte Frau“ (ATU 400-449), in denen der eine Partner den anderen erlöst, oft nach langer Suchwanderung oder schwierigen Prüfungen. Allein schon bei den Brüdern Grimm gibt es zahlreiche lesenswerte Beispiele, zum Beispiel das actionreiche „Singende springende Löweneckerchen“ mit seinem gleich zweifach verzauberten Ehemann oder „Die Bienenkönigin“ über eine schlafende Prinzessin und ihren überaus sanftmütigen und tierlieben Freier (ein Lieblingsmärchen meiner Kinder).
Eine der anrührensten und schönsten (manch einer würde vielleicht sagen: kitschigsten) Erlösungsszenen, die ich überhaupt je gelesen habe, findet sich im Grimm-Märchen „Die Alte im Wald.“ Wie der verzauberte Königssohn dem armen Dienstmädchen aus einer verzweifelten Notlage hilft und wie sie dann ihrerseits der bösen Hexe trotzt um ihn zu erlösen – das ist Märchen- (und Wald-)Romantik pur! In meinem Märchen „Karl und Kathrina, der Riese Rumtumgusch und die Alte im Wald“ (bald zu lesen in Time4Stories 2) sind Elemente dieser Geschichte eingeflossen.
Dieses Märchen hat einfach alles: Einen grotesk-komischen Anfang (die Rapunzeln!), Spannung und Schockmomente (der Prinz stürzt sich verzweifelt vom Turm! In die Dornen!), eine Heldin mit einem unverkennbaren Signature-Look (die Haare!) und eine weitere sagenhaft romantische Erlösungsszene (Rapunzels Tränen heilen den erblindeten Prinzen!).
Die Disney-Version (Tangled) ist zwar weit vom Grimmschen Orignial entfernt, aber auch sehr sehenswert (zumal Flynn Ryder deutlich mehr Charisma hat als der fast schon nervtötend passive Prinz im Original). Und wer danach noch immer nicht genug von langhaarigen Mädchen in Türmen hat, kann die deftigere – und deutlich ältere – Variante im Pentamerone, dem „Märchen der Märchen“, nachlesen. Dort heißt Rapunzel übrigens nicht nach dem Feldsalat, sondern in gutem Neapolitanisch: „Petrosinella“ - kleine Petersilie.
Väter kommen in Märchen häufig schlecht weg. Sie sind entweder völlig passiv und setzen ihren Frauen, den bösen (Stief-)müttern, nichts entgegen („Aschenputtel“, „Hänsel und Gretel“) oder sie sind sogar selbst grausam gegenüber ihren Kindern (ganz besonders furchtbar: „Das Mädchen ohne Hände“). Wie gut, dass es auch (Märchen-)väter wie Stan Bolovan gibt: Um seine hundert (dito!) Kinder satt zu bekommen muss sich Stan sogar einem Drachen und dessen Mutter stellen. Und das tut er – mit Heldenmut und Köpfchen. So einen Papa sollte jedes Kind haben!
Nachzulesen in: Kindermärchen aus aller Welt (Mutabor Verlag).
Ein Lieblingsmärchen von Oscar Wilde auszuwählen, ist so ähnlich, wie sich für einen Lieblings-Beatles-Song zu entscheiden (I Will?). Oder für eine Lieblingsfigur von Astrid Lindgren (Michel aus Lönneberga?). Egal, wie man wählt, man wird immer unsagbar viel Großartiges unerwähnt lassen. Im Fall von Wildes Märchen bedeutet das: Unsagbar viel Schönheit. Tiefen Herzschmerz. Beißende Sozialkritik.
"The Happy Prince" - vermutlich Wildes bekanntestes Märchen - vereint all das. Und gehört vermutlich zu den Top 10 traurigsten und schönsten Liebesgeschichten aller Zeiten. Taschentücher bereithalten.
Trigger-Warnung: Wen bei biedermeierlicher Niedlichkeit und romantischer Gefühlstrunkenheit das kalte Grausen packt, der sollte die Finger von diesem Bechstein-Märchen lassen.
Wer aber Wortungetümen wie „Regenbogengefunkel“ etwas abgewinnen kann, der sollte sich diese Meta-Märchen-Fantasie nicht entgehen lassen. Mir jedenfalls läuft bei der Beschreibung des Wundervogels Phantasie, unter dessen schillerndem Gefieder sich auch einige schwarze Federn verbergen, ein wohliger Schauer über den Rücken …
In: Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch